Das Kriegsende 1945 in Spandau an der Scharfen Lanke

Jugenderinnerungen aus der Sicht eines Beteiligten

Als Anfang des Jahres 1945 die Fliegerangriffe immer häufiger und heftiger wurden, gestaltete sich der Schulbesuch für uns Kinder immer schwieriger. Zumal es sich jetzt überwiegend um Tagesangriffe handelte. Der lange Schulweg, den wir hatten, bot unterwegs zu wenig Schutzmöglichkeiten. Die Gefahr von einem Fliegerangriff überrascht zu werden war groß.

Von unseren Eltern wurden wir jetzt angewiesen den längeren Schulweg über die Pichelsdorfer Straße zu nehmen, da sich dort in den Häusern Luftschutzkeller befanden. Immer haben wir diesen Rat nicht befolgt. Ich kann mich erinnern, dass wir oft auf dem Heimweg beim ertönen der Sirene rennen mussten.

Zum Glück konzentrierten sich die Angriffe jetzt auf die Innenstadt, wie z. B. der verheerende Tagesangriff vom 28.3.1945, der die Spandauer-Altstadt weitgehend zerstörte. Es geschah aber auch, dass es während des Unterrichtes Alarm gab. Wir mussten dann schnell die Klassenräume verlassen und uns in den Luftschutzbunker begeben.

Dieser Hochbunker, den man erst vor ein paar Jahren abgerissen hat, stand auf der anderen Seite des Földerichplatzes. Überflüssig zu sagen, dass diese Bunker absolut bombensicher waren. Ungefähr Anfang April 45 kam der Schulbetrieb in unserer Schule gänzlich zum Erliegen. Um, wie es hieß, den „Befreiungskampf um Berlin“ zu überstehen, gab es für die Haushalte Lebensmittel-Sonderzuteilungen.

Zu Menge und Qualität kann ich heute nichts mehr sagen. Ich weiß nur die Leute staunten, dass noch Lebensmittel in dieser Menge vorrätig waren. Etwa ab dem 20. bis 21. April schliefen wir in unserem Luftschutzbunker. Dieser, in den Sand der Haveldüne hinein gebaute Stollen, bot doch einige Sicherheit. Zumal die „Luftlage“ (wie es damals hieß) immer unübersichtlicher wurde.

Einen regulären Fliegeralarm gab es nicht mehr. Es tauchten jetzt unregelmäßig überwiegend sowjetische Flugzeuge auf, die sich ihrer Bombenlast ungezielt entledigten. Viel Schaden richteten diese russischen Doppeldecker – Gott sei Dank – nicht an, aber es krachte doch hin und wieder erheblich.

Den Geschützdonner der näher rückenden Front hörte man jetzt beinahe ständig. Einzelne Einschläge lagen schon in mittelbarer Nähe. Es war eine eigenartige gespannte Stimmung unter den Leuten. Niemand wusste was uns erwartet. Es kursierten die tollsten Gerüchte. Die verbliebenen bekannten Parteigenossen verbreiteten weiterhin „Endsiegstimmung“, sie erzählten von kommenden Wunderwaffen und von der legendären Armee Wenck, die angeblich vor Berlin steht, um uns zu befreien.

Es wurde auch von marodierenden und wütenden Rotarmisten berichtet. Einiges wurde bewusst übertrieben aber einiges mussten wir später leider ertragen. Ängstliche Erwartung und Ungewissheit waren vorherrschend. Nachdem am 27. April 45 Spandau praktisch besetzt war, rückten die Russen in unsere Richtung, Pichelsdorf, Bocksfelde, Weinmeisterhornweg vor.

Erst später bekamen wir mit, dass es dort noch heftige Kämpfe gegeben hatte. Versprengte Trupps Deutscher Soldaten, die sich noch vor den nachrückenden Russen in Sicherheit bringen wollten, kamen immer wieder bei uns vorbei. Eines Morgens, das Datum weiß ich nicht mehr, war es dann soweit. Jemand sagte: „Sie sind da!“ Die noch verbliebenen Männer und wir Jungs dazwischen, drängten uns zum Ausgang.

Vor dem Bunkereingang stand ein russischer Panzer, ein T 34 mit aufsitzender Infanterie. Heute noch erinnere ich mich an die erdbraunen Uniformen und die runden grünen Stahlhelme der fremden Soldaten. Wir Kinder wurden aber schnell wieder in den Bunker, in unsere Hängematten beordert.

Es folgte ein Ereignis, dass für mich bis heute immer noch gegenwärtig prägend ist. Durch den Luftschutzstollen, vom nördlichen zum südlichen Eingang, stürmte ein russischer Offizier. Mit einem blutigen Kopfverband, russisch schimpfend, schoss er beim Laufen ständig mit einer Pistole in die Decke. Alles lag flach, nur mir oben in meiner Hängematte flogen buchstäblich die Kugeln um die Ohren. Aber alles ging noch mal gut. Dann kamen welche, die alles durchsuchten und Uhren forderten, „Uri, Uri“ wie sie sagten. Unsere Wohnungen die gegenüber unserem Bunker lagen, wurden auch durchsucht. Hierbei bin ich mein Fahrrad losgeworden. Wie ja allgemein bekannt, gab es auch viele Übergriffe auf Frauen. Wir als Kinder haben davon nicht viel mitbekommen, unser Bunker blieb davon weitgehend verschont. Wir hatten aber auch einen „Schutzengel“.

Dieser Schutzengel war Albaner, von uns „Albani“ genannt (Den Namen weiß ich nicht mehr). Dieser Albaner arbeitete während des Krieges auf der Werft. Wie er dort hinkam, ist nicht bekannt. Ich weiß nur, dass er mit allen gut befreundet und ein Verehrer Hitlers war. Albani sprach fließend russisch, redete ständig mit den russischen Soldaten und Offizieren und konnte sie so scheinbar etwas besänftigen.

Die Russen richteten auf dem Werftgelände ein Heerlager ein. Pferde bespannte „Panje-Wagen“, Lastwagen und auch einige Panzer standen auf dem Gelände. Für uns Kinder alles neue und interessante Fahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände. Kinder hatten von den Russen eigentlich nichts zu befürchten. Im Gegenteil, wenn wir um die Pferdewagen herum standen und die Verpflegung bestaunten, die dort lagerte, bekamen wir schon öfter mal etwas ab. Mal ein Stück Brot oder ein Stück Speck.

Plötzlich wurden Frauen gesucht, alles war in heller Aufregung, aber die Frauen sollten nur für die Russen kochen. Meine Mutter war nicht dabei, die versteckte sich vorsichtshalber zusammen mit der Tochter unserer Nachbarin im Holzschuppen unseres Gartens. Denn tagsüber waren wir, nachdem der Kampflärm sich verzogen hatte, wieder in unseren Wohnungen. Was die Frauen für die Russen gekocht haben, weiß ich nicht mehr. Es muss aber etwas mit Fisch gewesen sein, denn die Russen betrieben Fischfang mit Eierhandgranaten.

Eine einfache Sache. Man zieht die Handgranate ab und wirft sie ins Wasser, es sprudelt auf, die betäubten Fische kommen nach oben und man braucht sie nur noch einsammeln. Heute würde man sagen, nicht sehr umweltfreundlich.

Das wir Kinder immer kesser wurden und uns jetzt beinahe ständig bei den Russen aufhielten bescherte uns ein tief greifendes Ereignis. Ein Offizier sagte zu meinem Freund und mir: mitkommen! Wir bekamen jeder ein Behälter mit warmen Essen über die Schulter gehängt (wie ein Rucksack) und mussten dem Russen hinterher traben.

Der Weg ging die Scharfe Lanke entlang bis zum Weinmeisterhornweg, dann den Weinmeisterhornweg rauf bis etwa zum Margaretenweg. Wir trauten unseren Augen nicht. Hier musste der Krieg gerade erst zu Ende gewesen sein. Die Straße war übersät mit toten meist deutschen Soldaten. Dazwischen ausgebrannte Fahrzeuge und tote Pferde. Wir gelangten an ein Schützenloch mit russischen Soldaten. Hier wurden uns die Essenbehälter abgenommen, der Offizier sagte, „dawai“ und wir mussten den Weg allein zurück gehen.

Wieder an all diese gespenstische Totenwelt vorbei. Ein für mich, bis heute, prägendes Erlebnis.

Eines Tages, im Mai 1945, zog der Russentross von der Lanke-Werft wieder ab. Vor unseren „Befreiern“ hatten wir auch jetzt noch keine Ruhe. Einzelne Trupps russischer Soldaten durchstreiften unsere Gegend. Wohnungen wurden immer wieder durchsucht. Man war auf der Jagt nach Uhren, Schmuck und vor allem Schnaps. Auch Frauen mussten sich weiterhin verstecken. Dieser Spuk wurde erst nach hartem Durchgreifen der Sowjetischen Kommandantur weitgehend eingedämmt (siehe Befehl Nr. 1 vom April 45, vom Stadtkommandanten Generaloberst Bersarin).

Das größte Problem das jetzt auftrat war die Versorgung. Alle wollten überleben. Lebensmittelkarten und eine geregelte Versorgung gab es noch nicht. Eines Morgens verbreitete sich die Meldung: Es gibt Brot! Die Russen hatten mitbekommen, dass unser Bäcker (Bäcker Palm im Weinmeisterhornweg) noch genügend Mehl am Lager hatte. Bäcker Palm musste also Brot backen.

Alles strömte zum Weinmeisterhornweg und stellte sich an. In meiner Erinnerung würde ich sagen, dass die Schlange vor dem Bäckerladen über 100 m lang war. Bewacht wurde diese ganze Szenerie von russischen Soldaten. Glücklich zogen die, die ein Brot bekommen hatten nach Hause.

Um die ersten Wochen nach dem Kriege verpflegungsmäßig gut zu überstehen, kam uns ein anderer Umstand zu gute: Unser Verpflegungsschiff! Dieser Lastkahn, voll mit Wehrmachtsverpflegung, konnte wohl seinen Zweck bei den Endkämpfen um Berlin nicht mehr erfüllen. Jedenfalls wurde er in der Scharfen Lanke am Akademischen Seglerverein (ASV) von der Besatzung verlassen und abgestellt.

Die Ladung bestand aus Konservendosen mit Schweinefleisch, Rindfleisch und Fleischschmalz. Ferner, für uns Kinder besonders interessant, sauren Vitaminbonbons und Schokoladenriegel. Die Bevölkerung bekam sehr schnell Wind von dieser Quelle und begann den Kahn zu entladen.

Auch wir machten uns mit einem Handwagen auf den Weg. Entladen war mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Der Laderaum war mehrere Meter tief. Leitern hatten wir nicht. Also wurden die leichtesten Personen, wir Kinder, an einem Seil herab gelassen, Wir banden unten die Kartons an das Seil und so wurden sie dann hochgezogen. Den hoch beladenen Wagen zogen wir dann heimwärts.

Die ganze Gegend bediente sich hier, auch wir haben mehrere Fuhren gemacht. Dies geschah alles mit Billigung der Russen, die sogar einen Wachposten an den Kahn stellten und sich natürlich auch selbst bedienten. Mit den Konserven hatten wir ein Tauschmittel, d.h. wir konnten sie gegen andere Lebensmittel eintauschen.

Man muss nämlich wissen, dass die Bevölkerung noch auf Selbstversorgung angewiesen war. So wurden Lebensmittellager, Geschäfte in zerstörten Häusern und Kasernen buchstäblich „geplündert“. Besonders denke ich hier an das Lager von Kaisers-Kaffee am Brunsbütteler-Damm oder die Seekt-Kaserne in der Wilhelmstraße.

Überall gab es was Brauchbares zu holen. Da denke ich auch an eine Marmeladenfabrik in der Götelstraße, nahe Pichelsdorf. Hier wurden einfach die Fässer eingeschlagen um an die Marmelade zu kommen. Es klingt alles etwas unwahrscheinlich, besonders für die die diese Zeit nicht mitgemacht haben, aber es ist wirklich alles passiert.

Die Zeit beruhigte sich langsam ein wenig. Ich glaube noch im Laufe des Mai`s 1945 gab es die ersten Lebensmittelkarten. Anfang Juni fuhr vom Straßenbahnhof in der Pichelsdorfer Straße wieder die erste Straßenbahn. Für uns Kinder war besonders schmerzlich, dass wir ab 1. Juni 45 wieder zur Schule gehen mussten.

Erwähnen möchte ich noch, dass überall noch Kriegsgerät und Munition herum lag. Ausgebrannte Panzer, Geschütze, Panzerfäuste, Gewehrpatronen usw. begleiteten unseren Schulweg. Dass dies ideale Spielzeuge für uns waren, kann sich wohl jeder denken. Es grenzt schon an Wunder, dass hier keine größeren Unglücke passiert sind. Niemand dachte zu dieser Zeit daran, dass wir noch 4 schwere und entbehrungsreiche Jahre zu überstehen hatten, ehe wir wieder ein halbwegs normales Leben führen konnten.

Jörg Sonnabend

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