Der Staat als Datenkrake?

Wenn der Zensus 2011 dreimal klingelt

Zensus 2011
Zensus 2011

„Es geschah aber in jenen Tagen, dass eine Verordnung vom Kaiser Augustus ausging, den ganzen Erdkreis einzuschreiben. Diese Einschreibung geschah als erste, als Cyrenius Statthalter von Syrien war. Und alle gingen hin, um sich einschreiben zu lassen, ein jeder in seine Stadt.“

Nicht der gesamte Erdkreis, sondern jedes EU-Land ist dazu verpflichtet, Antworten zu geben. Zukünftig wird regelmäßig alle 10 Jahre gefragt werden. Damit möchte der Staat besser „die Zukunft der Gesellschaft“ planen können … Stichtag der Befragung ist der 9. Mai 2011. Auf diesen Tag werden sich alle Daten beziehen. Der Befragungszeitraum erstreckt sich vom 9.5. bis 31.7.2011. Erste Ergebnisse sind 18 Monate nach dem Stichtag zu erwarten. Eine detaillierte Auswertungen folgen 24 Monate nach dem Zensusstichtag – ab Mai 2013.

Rund jeder 10. Bürger Spandaus – insgesamt etwa 22.000 – und des restlichen Deutschlands wird gezählt werden. Die Bundesrepublik setzt damit eine Entscheidung der EU um. Wer sich weigert, die geforderten Antworten zu erteilen, muss mit einem Bußgeld bis zu 5000 Euro rechnen.

Anfang April wurde dem Leiter der Zensuskommission (stellvertretend für die Zensus 11-Kommission), Gert Wagner, der „Big-Brother-Award überreicht. „Seit dem Jahr 2000 werden in Deutschland die BigBrotherAwards an Firmen, Organisationen und Personen verliehen, die in besonderer Weise und nachhaltig die Privatsphäre von Menschen beeinträchtigen oder persönliche Daten Dritten zugänglich machen.“

1987 hatte es die letzte Volkszählung gegeben. Dabei wurde die gesamte Bevölkerung West-Deutschlands befragt. Geplant war die Volkszählung eigentlich schon 1984. Kurz vor dem eigentlichen Termin stoppte das Bundesverfassungsgericht (BVG) das Verfahren – gegen den erklärten Willen der meisten Politiker. Begründet wurde das Urteil mit massiven Rechtsverstößen im gesamten Befragungsverfahren. Das BVG betonte damals ausdrücklich das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ jedes einzelnen Bundesbürgers.

Die Befragung durch die Erhebungsbeauftragten wird rechtzeitig vorher in einem Brief angekündigt. Alle Interviewer müssen sich durch einen Ausweis legitimieren. Sollten andere Personen im selben Haus befragt werden, bekommen alle gleichzeitig den Termin. Niemand ist gezwungen den Fragesteller in seine Wohnung zu lassen. Nur bei einer Frage, nämlich der Frage nach dem religiösen Bekenntnis, darf die Antwort verweigert werden.

Im Gegensatz zu 1987, als weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen die Befragung war und Gegner der Volksbefragung sogar als Staatsfeinde bezeichnet wurden, ist die Kritik daran heute kaum wahrnehmbar. In Zeiten von Facebook und Bonuskarten geben inzwischen die meisten Menschen freiwillig mehr von sich preis, als im Zensus gefragt ist.

Drei Gruppen werden im Rahmen des Zensus 2011 direkt befragt.

  • 9,4 Prozent zufällig ausgewählte Bürger Deutschlands
  • alle 17,5 Millionen Wohnungs- und Hauseigentümer
  • allen Bewohner von Sonderwohnbereichen (Gefängnisse, Studentenwohnheime, Altersheime …)

Hinzu kommt ein vollständiger Datenabgleich mit den Daten der Melderegister und der Bundesagentur für Arbeit.

Kosten

Der Zensus 2011 kostet den Steuerzahler rund 710 Millionen Euro. Etwa 80.000 Erhebungsbeauftragte, so heißen die Interviewer, werden unterwegs sein, um die Bögen zu verteilen und ausgefüllt wieder mitzunehmen. Bisher steht noch in den Sternen, ob die benötigte Anzahl an Interviewern zusammenkommt. Der Staat versucht dies schmackhaft zu machen, indem er pro ausgefülltem Bogen 7,50 Euro an den Interviewer zahlt. Nur 2,50 Euro gibt es, wenn der Bogen online ausgefüllt wurde. Da es mehr als unwahrscheinlich ist, alle Befragten zu den gewünschten Terminen zu erreichen, wird ein Interviewer immer wieder neue Anläufe unternehmen müssen.

Online

Wer mag kann die Fragebögen auch online ausfüllen. 500 Erhebungsstellen in Städten, Kreisen und Gemeinden sollen die Haushaltebefragung durchführen. Per Gesetz ist ihnen eine strikte Trennung von anderen Behörden (z. B. Ordnungs- und Meldeämter) verordnet, ein Umstand, der 1987 häufig nicht erfüllt wurde.

Mögliche Ergebnisse des Zensus

Diesmal geht die Angst bei einigen Politikern um. Nicht etwa, weil sie Angst um die Privatsphäre ihrer Wähler haben. Vielmehr könnte sich bei der Auswertung der Daten herausstellen, das in Deutschland weniger Menschen leben als erwartet. Warum ist das so schlimm? Nun, die Anzahl der Sitze im Bundesrat wird über einen Schlüssel bestimmt, in dem die Bevölkerungszahl einfließt.

  • Jedes Land hat mindestens drei Stimmen
  • Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier Stimmen
  • Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern haben fünf Stimmen
  • Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern haben sechs Stimmen

Hessen hat derzeit eine Bevölkerung von 6.061.951 Menschen. Unter 6 Millionen würde es einen Sitz im Bundesrat verlieren. Ähnliche könnte auch in Sachsen-Anhalt (2.356.219) geschehen, welches eine große Bevölkerungsabwanderung zu verzeichnen hat.

Im Rahmen des Länderfinanzausgleichs nach den zukünftig aktualisierten Erhebungsdaten könnten sich für viele reale Geldverluste ergeben.

 

Ein wenig Geschichte

 

Volkszählung 1983

Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU): „Der normale Bürger weiß warum die Volkszählung notwendig ist“. Die Argumente der Kritiker sind nach Zimmermann „eine Diffamierungskampagne“.

Das Bundesverfassungsgerichts (BVG) stoppte die geplante Volkszählung 1983 wegen massiver Rechtsbrüche. 30 Millionen Fragebögen mussten eingestampft werden. Zimmermanns Sprecher meinte, diese Entscheidung sei „ein Stück aus dem Tollhaus“.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte die beabsichtigte Weitergabe von Daten ans Melderegister, an Bundes- und Landesbehörden, an Gemeinden und deren Verbände für Verfassungswidrig. Es sprach ausdrücklich von einem durch das Grundgesetz geschützten „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Sogar die diffuse Angst vieler Menschen vor einer Gesellschaft, „in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“ wurde als begründet anerkannt. Ferner verlangte das Gericht Aufklärung der Befragten darüber, dass sie das Recht haben, ihre Fragebögen in einem verschlossenen Umschlag an den Zähler zu übergeben. Private wie dienstliche Interessenkonflikte der Zähler sollten unterbunden werden. Demnach dürfe niemand in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zählen, aber eben auch keine Polizeibeamten oder Finanzbeamten. Um einen Missbrauch der Daten zu vermeiden forderte das BVG eine frühestmögliche Anonymisierung der Daten.

 

Volkszählung 1987

600000 Zähler sollten Befragungen in 25 Millionen – also allen – (westdeutschen) Haushalten durchführen. Umgerechnet 500 Millionen Euro verschlang die Volkszählung. Alleine für Image-Werbung wurden umgerechnet 46 Millionen Euro ausgegeben. Maximal 33 Fragen wurde gestellt (Beruf, Einkommensquellen, Geschlecht, Familienstand, Name und Anschrift der Arbeitsstätte, Religion, Schulabschlüsse, Staatsangehörigkeit, Verkehrsmittel, Wohnverhältnisse …), nicht alle mussten beantwortet werden.

Diesmal durften die ausgefüllten Fragebögen in einem verschlossenen Umschlag übergeben oder direkt an die Erhebungsstelle geschickt werden. Auch andere, vom BVG kritisierten Punkte wurden korrigiert. Die Umsetzung der Forderungen des BVG stieß in der Praxis aber auf erhebliche Schwierigkeiten. Sie waren schlichtweg nicht umsetzbar, oder wurden ausdrücklich ignoriert. So wurden mögliche Interessenkonflikte ignoriert und fehlende oder möglicherweise falsche Daten durch eigene Ergänzungen oder Datenabgleich mit anderen Institutionen vorgenommen – ein klarer Rechtsbruch.

Die Stimmung entwickelte sich dramatisch. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung sprachen sich gegen die Zählung aus. Anschläge gegen Ämter, wie auch Übergriffe auf Zähler gehörten zu den typischen Schreckgespenstern, die dann leider auch z. T. Realität wurden. Manch Volkshochschule bot kostenlose Selbstverteidigungskurse für Volksbefrager an.

Es stand zu befürchten, das die Qualität der erhobenen Daten höchst zweifelhaft seien würde, wenn zu viele die Fragen bewusst falsch beantworten. Der „kreative Widerstand“ bot eine Vielzahl von Tipps, wie das System erfolgreich zu torpedieren sei. Gestützt wurde die Angst durch die Erkenntnis, dass es ein Leichtes sei, die „anonymisierten“ Daten wieder einer bestimmten Person zuzuordnen.

Nicht nur die Gezählten verweigerten sich in Scharen, ebenso hatten die Zähler keine Lust, sich einer möglichen Gefahr auszusetzen, oder für wenig Geld endlos viel Zeit mit dem Einsammeln von Fragebögen zu verbringen. Geholfen hat es ihnen nicht viel, sie wurden „dienstverpflichtet“. Auch hier gab es „kreative Unterstützung“, um einer Zwangsverpflichtung eventuell doch noch zu entgehen. Mancherorts war es so schwierig, Zähler zu finden, dass sogar Schüler und Sozialhilfeempfänger zum Zählen animiert wurden. Rechtsextreme nutzten diese Situation aus und stellten sich als freiwillige Zähler zur Verfügung – mit der Absicht, illegal lebende Ausländer zu identifizieren.

Der Staat begann über zu reagieren. Alles, was nach einer möglichen Zählgegnerschaft aussah, musste mit „kreativen Hemmnissen“ durch Behörden rechnen. In Berlin wurden sie in Listen des polizeilichen Staatsschutzes geführt. Aktive Gegner der Volkszählung erlebten polizeiliche Hausdurchsuchungen. Kurz und gut, Boykottaufrufer, die, wenn überhaupt, nur eine Ordnungswidrigkeit begingen, galten schnell als staatsgefährdend.

Die Volkszählung trat mit dem Versprechen an, die gesamte Infrastruktur in (West-)Deutschland mit den Ergebnissen der Befragung erheblich verbessern zu können – obwohl viel umfangreichere Daten schon an ganz anderen Stellen „lagerten“. Eine stichprobenartige Erhebung hätte den gleichen Effekt, nur mit geringerem Aufwand und zu geringeren Kosten gebracht. Das Parlament sah dies – gegen wissenschaftlichen Rat – anders.

Der generelle Nutzen der Volkszählung von 1987 wurde schon sehr früh in Frage gestellt, sie sei einzig dazu geeignet, endlich einmal die reale Einwohnerzahl zu bestimmen.

Anscheinend begründen die Fragen der Erhebung selbst nicht die Intensität der Reaktion auf beiden Seiten. Den Gegnern ging es häufig eher darum, dem Staat in seinem Gebaren Grenzen zu setzen, während der Staat in seiner Reaktion dem Bürger deutlich machen wollte, jetzt geht alles mit rechten Dingen zu – und niemand hat sich dem mehr zu widersetzen.

Sind seitdem genügend Schulen gebaut, Klassen eingerichtet, Lehrer eingestellt, Wohnungen gebaut, Krankenhäuser und Pflegeheime errichtet oder öffentliche Verkehrsmittel ausreichend gefördert worden?

 

Die Gegenwart

Zensus 2011 – Unterwanderung durch Rechtsextremisten

In Sachsen wollen Mitglieder der NPD als Volkszähler auftreten, um „Eindrücke von den persönlichen Lebensverhältnissen des einen oder anderen Antifaschisten“ zu bekommen. Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um „nationaldemokratische Marktforschung zur idealen Wähleransprache“ zu betreiben.

Die zuständige Referentin beim Statistischen Landesamt in Sachsen, Mandy Hillig sieht „keinen Anlass, einem NPD-Mitglied die Tätigkeit als Interviewer zu verwehren“, schließlich sein der Missbrauch der Daten ja verboten. Mord und Diebstahl sind auch verboten. Verhindert dies Mord und Diebstahl?

Anders in Frankfurt am Main, wo die NPD „Rückschlüsse auf mentale Befindlichkeiten, soziale Probleme und politische Stimmungen im Lande“ erhalten möchte. Hier duldet die Leiterin der städtischen Erhebungsstelle, Waltraud Schröpfer, keine NPD-Mitglieder als Volkszähler. Dabei beruft sie sich auf das Zensus-Gesetz, in dem eindeutig geregelt ist, das Daten nur im Sinne der Volkszählung zu nutzen sind. Sie vermeidet also vorausschauend den Missbrauch von Daten durch bestimmte Personenkreise. Hessen möchte die Gefahr einer „Unterwanderung“ minimieren, in dem möglichst viel Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes als Volksbefrager eingesetzt werden.

Frage

Alle Daten könnten auch auf der Basis bestehender Quellen erhoben werden. Warum also ist ein finanzieller Aufwand notwendig, der 700.000.000 Euro kostet? Wenn ein zu großer Teil der Bevölkerung sich trotz Bußgeldandrohung weigert, den Fragebogen auszufüllen, oder Fragen falsch beantwortet, ist das gesamte Analyse-Ergebnis höchst fragwürdig.

 

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About Ralf Salecker

Ralf Salecker, freier Fotograf und Journalist (www.salecker.info)