Ein Abenteuerlicher Schulweg in der Spandauer Nachkriegszeit

Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49

Teil 2

Freybrücke nach der Sprengung
Freybrücke nach der Sprengung; Fotograf/Quelle unbekannt.

Für uns Kinder war es eine Enttäuschung, dass wir ab 1. Juni 45 wieder zur Schule gehen mussten. Der Schulweg gestaltete sich aber noch abenteuerlich. Es standen überall noch die Reste des Krieges herum; zerschossene Panzer, ausgebrannte Autos und sonstiges Kriegsgerät. Schützenlöcher und Schützengräben waren auch noch nicht zugeschüttet, die Panzersperren die man auf der Heerstraße aus Eisenträger und umgekippten Straßenbahnwagen errichtet hatte waren auch noch vorhanden. Also überall Ablenkung auf den Schulweg. der sich dann auch dementsprechend lange hinzog.

Auch hatten wir Jung´s, bedingt durch unsere Kriegserlebnisse ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt. Schulmappen, die man auf den Rücken trägt waren unter unserer Würde, damit wollten wir nicht mehr gehen. Da Aktentaschen aber nicht immer vorhanden waren, es sei denn man hatte noch eine von Vatern, mussten andere Behältnisse her in denen man die noch vorhandenen Schulsachen unterbringen konnte. Ich z.B., hatte eine Kartentasche der Deutschen Wehrmacht. Diese ledernen Taschen, die ein DIN A 4 Format hatten, dienten den Offizieren zur Aufnahme von Geländekarten. Irgend jemand hatte sie aus den Kasernen besorgt.

Zu unserer Verwunderung trafen wir in der Schule, unsere Schule war die 21. Volksschule in der Konkordiastraße, noch die gleichen Lehrer an die uns auch im Kriege unterrichtet hatten. Neue Lehrer standen scheinbar nicht zur Verfügung, man musste auf altbewährte Lehrkräfte zurückgreifen. An einige Namen kann ich mich noch erinnern: da war der etwas gefürchtete Lehrer Max, Lehrer Bauer, Frau Haack oder Lehrer Brettschneider der später Rektor der Schule wurde, nachdem der in Spandau sehr beliebte Rektor Theo Hofschläger zum Schulrat befördert wurde.

Von einem geregelten Schulunterricht konnte aber noch keine Rede sein. Die Schule war zwar nicht zerstört aber einiges war doch zu Bruch gegangen. Überhaupt gestaltete sich der Schulbetrieb so unmittelbar nach dem Krieg etwas abenteuerlich. Da die Fensterscheiben teilweise kaputt waren, wurden die Fenster mit Pappe vernagelt. Lehrmittel waren so gut keine mehr vorhanden. Die noch vorhandenen Lehrmittel, wie z.B. Landkarten, Kartenständer, Schautafeln usw. mussten gesichtet und gesäubert werden. Tafelkreide war auch nur noch in Resten vorhanden. Wir Schüler selbst hatten keine Schulhefte, außer man hatte alte Bestände. So wurde alles beschrieben was sich beschreiben lies, jedes weiße Blatt Papier wurde verwendet. Kurz und gut, alles war knapp musste von irgendwo „organisiert“ werden.

Der Schulbetrieb hatte uns jedenfalls wieder, wenn auch in einer leicht abgeänderten Form. Für mich erstaunlich und im Nachhinein immer noch ein kleines Wunder, dass wir trotzdem noch gelernt haben. Wir hatten den Willen dazu und wollten vorwärts kommen. Unsere Lehrer, die ja auch nicht unter Idealbedingungen arbeiten mussten, waren sehr engagiert und hatten auch viele neue Ideen.

 

Engländer in Spandau

Ab Anfang Juli 45 änderte sich das Straßenbild, wir mussten uns an andere Uniformen und an anders aussehende Fahrzeuge gewöhnen: die Engländer zogen in Spandau ein. Wie wir Jungs „fachmännisch“ feststellten war der Fahrzeugpark und das mitgeführte Kriegsgerät, im Gegensatz zu den Russen, alles etwas moderner, heute würde man sagen „westlicher“. Wobei nicht viel Kriegsgerät zu sehen war, das meiste waren die typisch englischen, hochbeinigen Lkws, Yeeps und Panzerspähwagen.

Die Engländer waren in der ersten Zeit uns gegenüber sehr verschlossen, sie mieden den Kontakt mit der deutschen Bevölkerung. Dieses Verhältnis lockerte sich aber bald. Man muss aber nicht annehmen, dass die Engländer, oder besser Briten denn es waren auch Schotten und Iren dabei, die reinsten Friedensengel waren. Sie verhielten sich zwar korrekt aber sie waren die Besatzungsmacht und das ließen sie auch spüren.

So beschlagnahmten sie z. B. Wohnungen um sie für eigene Zwecke zu nutzen. Aber nicht nur Wohnungen, sondern auch Segelclubs samt Boote wurden requiriert. An der Scharfen-Lanke waren der A.S.V. und die Segelvereinigung Unterhavel betroffen. Meine Großeltern die, wie schon erwähnt, eine Notwohnung auf dem Gelände der S.V.U.H. hatten, bekamen jetzt nach dem Abzug der Russen, Engländer als Nachbarn.

Für uns Jungs ergab sich hier ein neues Betätigungsfeld. Unsere Überlegung war, wenn die Engländer die Boote benutzten so brauchen sie bestimmt auch Jemand der sie mal sauber macht. Als Gegenleistung dachten wir an was Essbarem oder vielleicht an Zigaretten, die man ja gut als Tauschware gebrauchen konnte. Wir trauten uns also immer näher und machten uns bemerkbar. Da es mit dem Englisch noch nicht so klappte, deuteten wir mit den Händen an dass wir helfen wollten. Das Wunder geschah, man ließ uns. Ab und zu durften wir uns nützlich machen und wurden auch mit etwas Essbarem belohnt. Das war dann immer ein Festessen, mit Weißbrot, Butter und Orangenmarmelade. Heute nichts Besonderes, aber in der Hungerzeit nach dem Kriege träumte jeder davon.

 

Jörg Sonnabend

 

Ende Teil 2

 

Kindheitserinnerungen von Jörg Sonnabend 1945 bis 1949

  1. Der Krieg war zu Ende. Aber die Leiden und Entbehrungen sollten für uns erst beginnen.
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 1
  2. Ein Abenteuerlicher Schulweg in der Spandauer Nachkriegszeit
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 2
  3. Lebensmittelversorgung der Bevölkerung nach Kriegsende
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 3
  4. Schlusengeld – 1000 Reichsmark für ein Fahrrad
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 4
  5. Sicher stellen von Heizmaterial und Nahrungsbeschaffung nach Indianer-Art
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 5
  6. Schwarzmarkt und Wintervergnügen in Spandau
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 6
  7. Zwischen grenzenloser Freiheit und Schuldisziplin
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 7

 

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