Lebensmittelversorgung der Bevölkerung nach Kriegsende

Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49

Teil 3

3 Tausendtonner vor der Fertigstellung am Kai der Lanke Werft
3 Tausendtonner vor der Fertigstellung am Kai der Lanke Werft

Über die Versorgung der Bevölkerung. nach Kriegsende möchte auch noch einiges sagen. Schon Anfang Mai 45 versuchte man mit der Ausgabe von Lebensmittelkarten die Versorgung in den Griff zu bekommen. Es waren zwar die legendären „Hungerkarten“ mit 1.200 Kalorien, aber immerhin.

Überhaupt war die Versorgung im Laufe des Jahres 1945 noch erträglich und gesichert. Der Grund hierfür war, dass viele Lebensmittelvorräte die in der Stadt eingelagert waren, über das Kriegsende hinaus rüber gerettet werden konnten. Das Wenige was auf den Lebensmittelkarten stand bekam man jedenfalls auch, was dann 1946-47 nicht immer mehr der Fall war. Viele Leute hatten sich auch in den letzten Kriegstagen in ausgebombten Geschäften, Lebensmittellagern (in Spandau z.B. bei „Kaisers-Kaffee“) oder Kasernen, „selbst bedient“ und so einen gewissen Vorrat angelegt. Wir in unserer Gegend, d. h. Scharfe-Lanke, Weinmeisterhorn und Bocksfelde, hatten „unseren“ Lastkahn mit Wehrmachtsverpflegung. Diesen Lastkahn, der wohl den Weg in die Innenstadt nicht mehr geschafft hat, hat man noch vor Beendigung der Kampfhandlungen einfach an den Steganlagen des Akademischen-Seglervereins abgestellt. Die Bevölkerung hat schnell mitbekommen, dass es dort was zu holen gab und hat sofort reagiert.

Es waren die letzten Apriltage des Jahres 45, der Kriegslärm hatte sich beruhigt und man traute sich schon wieder raus aus dem Bunker. Für Frauen traf dies allerdings nicht zu, die mussten vor marodierenden Rotarmisten weiter versteckt bleiben. Wir, das heißt mein Großvater und ich, besorgten uns also einen Handwagen und zogen los zum ASV. Normalerweise ein Weg von 15 Minuten, aber der Krieg hatte doch Spuren auf der damals noch ungepflasterten Scharfen-Lanke hinterlassen. Granattrichter und eilig ausgeworfene Schützenlöcher behinderten den Weg.

Am Lastkahn herrschte schon ein reges Treiben, viele Leute waren damit beschäftigt den Kahn zu entladen. Das Entladen hatte so seine Schwierigkeiten, denn die Laderäume hatten mindestens eine Tiefe von 3 Metern. Die Lösung war einfach, da Leitern nicht vorhanden waren ließ man mich (als leichteste Person) an einem Strick befestigt runter. Unten band ich die Kisten mit den Konserven an den Strick und man zog sie nach oben. Zum Schluss wurde ich wieder rauf geholt. Wir verluden alles und die Fahrt ging wieder nach Hause. Da wir diese Fahrt mindestens dreimal machten, hatten wir uns reichlich eingedeckt. Ein Wort noch zu den Inhalt dieser Kisten, es waren wie gesagt Wehrmachtskonserven bestehend aus Schweinefleisch, Rindfleisch und fertigem Gemüseeintopf, auch Kisten mit Schokolade waren dabei (heute würde man sagen Schokoriegel). Jedenfalls alles für damalige Verhältnisse köstliche Sachen, die uns gut über den ersten Nachkriegswinter gebracht haben. Als mein Vater im Februar 1946 aus Britischer Kriegsgefangenschaft kam, wurde die letzte Büchse geöffnet.

So glatt und leicht, wie hier beschrieben lief das alles natürlich nicht ab, von weitem war immer wieder mal Gefechtslärm zu hören und russische Flugzeuge patrouillierten am Himmel. Russische Posten standen vor dem Kahn Wache, hinderten aber niemand daran sich mit Verpflegung einzudecken. Nur ab und zu wurde das ganze Clubgelände abgesperrt, dann fuhren russische Lastwagen vor und man bediente sich selbst mit den Konserven.

Aus irgendeinem Grunde waren die Russen, nach Beendigung der Kampfhandlungen darauf bedacht, dass die Bevölkerung versorgt wurde. So kann ich mich erinnern, dass unser Bäcker Palm der seine Bäckerei am Weinmeisterhornweg hatte, aufgefordert wurde Brot zu backen. Die Russen hatten wohl festgestellt, dass er noch genügend Mehl eingelagert hatte.

Überhaupt wunderte man sich in der Bevölkerung über die Fülle Vorräte, die nach Kriegsende in den Lagern der Geschäfte noch vorhanden waren. Eines Morgens also trommelten Russische Soldaten die Bewohner der Umgebung zusammen und man bedeutete uns mitzukommen. Keiner wusste so recht wo es hingeht. Viele dachten es wird sich wohl wieder um einen der üblichen Arbeitseinsätze handeln. Denn Arbeitseinsätze waren an der Tagesordnung, oft wurden Frauen zusammen gesammelt um irgendwelche Häuser sauber zumachen in denen Sowjetische Offiziere wohnen wollten.

Wir Kinder hatten unsere Mütter bei solchen Einsätzen immer begleitet quasi als Schutz, denn Kinder standen bei den Russen immer unter einem besonderen Schutz. Aber zurück zur Brotausgabe: am Weinmeisterhornweg angekommen sahen wir schon eine Schlange von Menschen vor der Bäckerei stehen. In diese Schlange, die schon eine stattliche Länge angenommen hatte, reihten wir uns ein. Jeder der den Bäckerladen erreicht hatte bekam ein warmes Brot in die Hand gedrückt und konnte wieder nach Hause gehen. Ob wir das Brot bezahlen mussten weiß ich heute nicht mehr, aber geduftet und geschmeckt hat es denn es war das erste Brot, das wir nach Beendigung des Krieges in den Händen hielten.

Vielleicht wundern sie sich, dass ich der Versorgung hier einen so großen Platz eingeräumt habe, aber jeder der diese entbehrungsreichen Hungerjahre bis 1949 mitgemacht hat wird mich verstehen. Es gab in dieser Zeit zwei Begriffe um die sich alles drehte, die hießen: Lebensmittel und Heizmaterial. Heute noch bekomme ich es nicht fertig ein Stück Brot wegzuwerfen. In der zweiten Jahreshälfte von 1945 bekam unser Schulbesuch einen neuen Anreiz, der hieß „Schulspeisung“. Es hieß, wir sollten ein Essgeschirr und einen Löffel mitbringen. Essgeschirr hieß in diesem Falle: eine Milchkanne, ein altes Wehrmachtskochgeschirr oder einen sonstigen Aluminiumbehälter, Hauptsache ein Henkel war dran. Diese klappernden und mit der Zeit immer mehr verbeulten Essgeräte sollten uns noch bis zur Schulentlassung 1949 begleiten. Der Tag der ersten Ausgabe der Schulspeisung war also gekommen und es begann mit warten. Der Unterricht war zu Ende, die Zeit verging, nichts rührte sich.

Bis dann endlich am Nachmittag ein Pferdewagen, beladen mit einigen Thermosbehältern auf den Hof rollte. Die Behälter wurden auf die einzelnen Flure verteilt und man begann mit der Ausgabe. So weit ich mich erinnern kann gab es für jeden einen halben Liter einer undefinierbaren Gemüsesuppe. Ob es geschmeckt hat, kann ich nicht mehr sagen aber wer Hunger hat fragt nicht nach Geschmack und Hunger hatten wir.

Erreichen wollte man damit, dass die Schulkinder wenigsten einmal am Tage eine warme Mahlzeit bekamen, was in dieser entbehrungsreichen Zeit nicht immer selbstverständlich war. Die Gerichte wechselten natürlich auch, wobei der Höhepunkt für uns immer der Tag war, an dem es die süße Suppe aus kanadischem Weizenmehl zusammengekocht mit Keksen gab.

Jörg Sonnabend

 

Ende Teil 3

 

Kindheitserinnerungen von Jörg Sonnabend 1945 bis 1949

  1. Der Krieg war zu Ende. Aber die Leiden und Entbehrungen sollten für uns erst beginnen.
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 1
  2. Ein Abenteuerlicher Schulweg in der Spandauer Nachkriegszeit
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 2
  3. Lebensmittelversorgung der Bevölkerung nach Kriegsende
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 3
  4. Schlusengeld – 1000 Reichsmark für ein Fahrrad
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 4
  5. Sicher stellen von Heizmaterial und Nahrungsbeschaffung nach Indianer-Art
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 5
  6. Schwarzmarkt und Wintervergnügen in Spandau
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 6
  7. Zwischen grenzenloser Freiheit und Schuldisziplin
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 7

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