Schlusengeld – 1000 Reichsmark für ein Fahrrad

Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49

Teil 4

Nach der Probefahrt an der Scharfen Lanke in Spandau
Nach der Probefahrt an der Scharfen Lanke in Spandau

Wenn ich heute Kinder mit ihren modernen Fahrrädern beobachte erinnere ich mich an meine abenteuerliche Fahrradzeit 1945, also kurz nach Kriegsende. Mein Großvater hatte mir 1944 ein Fahrrad geschenkt. Er hatte dieses Rad, wie es im Kriege üblich war, auf Bezugsschein gekauft.

Das kuriose dabei war, dass mein Opa gar nicht Rad fahren konnte, er hatte es nie gelernt. Ich bekam also das Rad und fuhr auch damit bis zum April 1945. Trotzdem wir meinten es unter dem Bett es gut versteckt zu haben, wurde es von den Russen entdeckt und nahm wie viele Dinge damals den Weg nach Russland. Meine Wut und Enttäuschung war natürlich groß, ich konnte mir ein Leben ohne Fahrrad nicht vorstellen. Meine Mutter, die mir meine Enttäuschung ansah, erbarmte sich und kaufte mir aus der Nachbarschaft ein altes gebrauchtes Rad. Der Preis, der sich heute astronomisch anhört, betrug 1.000 Reichsmark, „Schlusengeld“ wie der Berliner damals sagte.

Um den Wert der nach dem Kriege noch gültigen Reichsmark zu verdeutlichen, hier einige „Schwarzmarktpreise“ von damals: Ein 1.000 Gramm Brot kostete ca. 70 Reichsmark, eine „Ami“-Zigarette ca.8 Reichsmark und für ein Pfund Butter musste man schon ca. 400 Reichsmark hinlegen.

Aber zurück zu meinem Rad. Dieses Fahrrad befand sich in einem jämmerlichen Zustand. Die Schläuche waren vielfach geflickt, die Decken abgefahren und die Kette war „ausgeleiert“. Also viele Reparaturstunden waren vorprogrammiert. Da es aber keinerlei Ersatzteile gab, es gab noch nicht einmal Flickzeug, musste improvisiert werden. Mein Motto lautete: 2 Stunden fahren und eine Stunde reparieren. Ich habe jedenfalls damals, schon als 12 Jähriger ein Fahrrad so gründlich kennen gelernt, dass ich es im Dunkeln auseinander nehmen und wieder zusammenbauen konnte.

Hamsterfahrten – Die Bauern legen sich jetzt schon Teppiche in den Kuhstall

Der Winter und das erste Nachkriegsweihnachtsfest stand vor der Tür. Mangel an allen Ecken und Enden beherrschte unser Leben. Die ersten Hamsterfahrten in die Umgebung Berlins wurden unternommen, um ein paar Kartoffeln, ein paar Pfund Roggen oder auch mal ein Stück Speck zu ergattern. Das hört sich jetzt natürlich einfach an, aber die Realität sah etwas anders aus. Wir Berliner wurden von den Bauern mit einer ziemlichen Arroganz behandelt und wenn man keine Tauschware mit hatte bekam man sowieso nicht.

Tauschware hieß: Schmuck, Bettwäsche, Teppiche, Herrenanzüge usw., Was man vor den Bomben gerettet hatte wurde jetzt für ein paar Kartoffeln den Bauern in den Hals geworfen. Der Berliner, der sich ja immer seinen Humor bewahrt, ulkte: Die Bauern legen sich jetzt schon Teppiche in den Kuhstall.

Und wenn man ein paar Pfund Kartoffeln ergattert hatte war noch nicht sicher ob man sie auch nach Hause bekam. Da das Hamstern eigentlich verboten war, konnte es passieren, das die Deutsche Polizei (Vorläufer der Volkspolizei) einem am Bahnhof alles wieder abnahm. Unser Ausgangsbahnhof war immer der Bahnhof Nauen. Von dort mussten wir zu Fuß weiter in die Dörfer Richtung Ribbeck.

Vor der Rückfahrt von Nauen wurden immer Späher ausgeschickt um zu erkunden ob die Polizei auf den Bahnhof tätig ist. Bei „Gefahr“ wurde eben gewartet bis die Luft rein ist oder wir sind den Bahndamm hoch gekrochen um von der anderen Seite in den Zug einzusteigen. Einsteigen war auch nicht immer möglich, meisten „reiste“ man damals wegen Überfüllung der Züge auf dem Trittbrett oder man saß auf dem Puffer zwischen den Zügen.

Ein anderes Kapitel war die Kleidung. Neue Kleidung gab es nicht, oder nur auf Bezugsschein. Und wenn man einen Bezugsschein für Schuhe oder z.B. für einen Mantel bekommen hatte, war es nicht sicher ob man irgendwo dafür auch was bekam. Ich hatte noch die Winteruniform vom Deutschen Jungvolk (Vorläufer der der HJ, 10-14 Jahre), eine dunkelblaue Skihose mit Skibluse. Auch den dazugehörigen Lederkoppel habe ich noch getragen, das HJ-Emblem und die Aufschrift „Blut und Ehre“ auf dem Koppelschloss wurde einfach abgefeilt. Aber auch diese Sachen verabschiedeten sich langsam oder wurden zu klein.

Nähen, Selbermachen und Improvisieren waren angesagt

Ich hatte das große Glück, dass meine Großmutter nähen konnte, also wurde improvisiert. Meine Oma nähte mir z.B. aus einer grauen Decke einen Skianzug. Nähen und Selbermachen waren angesagt, wobei jede Art von Stoffresten verwendet wurden. Mit Schuhen war es schon  etwas problematischer. Wenn wir im Sommer nicht gerade barfuß gingen, trugen wir die sog. „Klapperlatschen“. Das waren einfach Holzsohlen die mittels Lederriemen an den Füssen befestigt waren. Im Winter wurden die X-mal geflickten und notdürftig besohlten Lederschuhe aufgetragen oder es gab auch Schuhe mit Holzsohlen, wobei das Obermaterial aus Leinen bestand. Neidisch wurden die Jungs in der Schule betrachtet, die noch im Besitz von Wehrmachtstiefeln waren, den sog. „Knobelbechern“.

Festzuhalten wäre noch, dass die Nachkriegssommer sehr warm und die Winter sehr streng waren, wobei der kalte Winter 1946/47 den Berlinern besonders zu schaffen machte. Das erste Nachkriegsweihnachtsfest stand also vor der Tür. Die Freude wieder ein „normales“ Weihnachtsfest feiern zu können, also ohne Fliegeralarm, war groß und ließ die materielle Not etwas vergessen. Einen Weihnachtsbaum hatten wir jedenfalls, dafür hatte ich schon gesorgt. Schließlich hatten wir ja unser kleines Wäldchen am Ende der Scharfen-Lanke.

Kerzen waren nicht aufzutreiben, aber ein Paar Kugeln hatten den Krieg überlebt. Meine Mutter hatte Mehl und Zucker zusammen gespart, so das auch ein magerer Kuchen gebacken werden konnte. Großvater hatte wieder einige Kaninchen im Stall, der Braten war also auch gesichert. Ein mageres aber nach vielen schlimmen Jahren wieder ein friedliches Weihnachtsfest.

In der Schule hatten wir auch eine Weihnachtsfeier, die mir deshalb immer in Erinnerung bleiben wird, weil sie der Gipfel der Improvisation war. Im Klassenraum wurde ein Weihnachtsbaum aufgestellt, den ich „organisiert“ hatte. Der Baum wurde mit Schmuck behangen, den wir im Unterricht aus Papier selbst gebastelt hatten. An Kerzen war natürlich nicht zu denken.

Aber am tollsten war die Idee mit dem Kuchen. Unsere Lehrerin Frau Haack sagte uns, jeder solle 50 gr. Mehl, 20 gr. Zucker und ein Löffel Fett mitbringen, sie würde daraus einen Kuchen backen. Gesagt, getan; sie backte aus den zusammen getragenen Zutaten zwei Kuchen, so dass jeder zur Weihnachtsfeier ein Stück Kuchen auf den Teller hatte. Es wurden Gedichte vorgetragen und Weihnachtslieder gesungen, eine Weihnachtsfeier an die ich mich heute noch gerne erinnere, die erste Friedensweihnacht nach dem schrecklichen Krieg.

 

Jörg Sonnabend

 

Ende Teil 4

 

Kindheitserinnerungen von Jörg Sonnabend 1945 bis 1949

  1. Der Krieg war zu Ende. Aber die Leiden und Entbehrungen sollten für uns erst beginnen.
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 1
  2. Ein Abenteuerlicher Schulweg in der Spandauer Nachkriegszeit
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 2
  3. Lebensmittelversorgung der Bevölkerung nach Kriegsende
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 3
  4. Schlusengeld – 1000 Reichsmark für ein Fahrrad
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 4
  5. Sicher stellen von Heizmaterial und Nahrungsbeschaffung nach Indianer-Art
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 5
  6. Schwarzmarkt und Wintervergnügen in Spandau
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 6
  7. Zwischen grenzenloser Freiheit und Schuldisziplin
    Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 7

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