Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49
Teil 8
Was wir zu dieser Zeit alle noch nicht wussten war, dass uns ein eisiger Winter bevor stand: der Jahrhundertwinter 1946/47. Von Ende 1946 bis zu März 1947 lagen die Temperaturen meistens unter 20 Grad minus und Schnee gab es auch reichlich. Heute wären solche Temperaturen kein Problem aber wir befanden uns 1946/47 noch in der von Mängeln und Provisorien beherrschten Nachkriegszeit. Unsere Fenster waren noch mit Pappe vernagelt, Kleidung und Schuhe waren zerschlissen und verheizt wurde alles was brennbar war.
Die Versorgung wurde aufgrund der Witterungsverhältnisse auch immer schwieriger. Das Bisschen das wir auf unseren Lebensmittelkarten bekommen sollten war nicht immer vorhanden. Wir, d.h. mein Vater und ich (1947 war ich 13) unternahmen weiter unsere Hamsterfahrten Richtung Nauen und weiter, um zusätzlich ein paar Pfund Kartoffeln oder ein Beutel Roggen zu ergattern. Die Züge waren immer noch überfüllt und das Fahren auf dem Trittbrett war bei der eisigen Kälte kein reines Vergnügen. Ein Teil der Kartoffeln die man gegen irgendetwas eingetauscht hatte erfroren einen noch dabei.
Da uns mit der Zeit die Tauschware ausging, hatte sich mein Vater etwas Neues ausgedacht. Er sammelte bei älteren Freunden und Bekannten, also Menschen die selbst nicht mehr Hamstern fahren konnten Goldschmuck ein, Ringe Ohrringe usw. Diesen Schmuck versuchte er bei den Bauern gegen wertvollere Lebensmittel wie Speck oder Butter einzutauschen. Was ihm auch immer wieder gelang, er hatte mit der Zeit seine Quellen. Zu Hause wurden die Sachen dann verteilt, wobei für uns immer eine reichliche „Provision“ abfiel. Der Vorteil hierbei war, diese Sachen waren leichter zu transportieren, sie erfroren nicht und man konnte sie bei Bedarf zu Hause wieder gegen Brot oder Kartoffeln eintauschen. Heute würde ich nicht mehr meine Hand dafür ins Feuer legen, das der Schmuck den mein Vater bei den Bauern „verscherbelt“ hat, alles echt war.
Pferdefuhrwerke und LKW´s auf der Havel
Aufgrund der extremen minus Temperaturen hatte die Havel eine Eisdecke von ca. einem Meter. Die wenigen Transportmittel die es damals gab, Pferdefuhrwerke und einige Holzgas betriebene Lkws, konnten sich von Pichelsdorf zur Lanke-Werft den Weg abkürzen und über´s Eis fahren. Den Weg nahmen übrigens die Briten mit ihren Yeeps auch um zu den Segelclubs zu kommen.
Besonders angespannt war bei dieser strengen Kälte Versorgungslage mit Heizmaterial. Man muss sich das mal vor Augen halten: es erfroren in diesem Winter in Berlin täglich mehrere, hauptsächlich ältere Menschen, in ihren Wohnungen. Wobei man ja von normalen Wohnbedingungen, wie wir sie heute kennen gar nicht sprechen konnte. Berlin hat im Kriege ca. 80 % seines Wohnraumes verloren, der Rest wurde notdürftig wieder bewohnbar gemacht und es lebten bis zu 3 Familien in einer Wohnung.
Dies nur, um die Lage in diesem strengen Hungerwinter zu verdeutlichen. Wir konnten uns zu Hause noch mit Abfallholz von der Werft und ein paar „geklauten“ Kohlen über Wasser halten. Manchmal musste auch bei Nacht und Nebel ein Baum aus unserem benachbarten Wald dran glauben. Da unser Kachelofen im Wohnzimmer noch kriegsbedingt kaputt war, war unsere einzige Wärmequelle in der Wohnung der Küchenherd. Aber nur in 2 Meter Umkreis vom Herd waren die Temperaturen einigermaßen erträglich, der Rest der Wohnung war meistens eisig kalt.
Erwähnen möchte ich noch, dass es auch ein paar Presskohlen oder besser Briketts auf Karte gab, der sog. Kohlenkarte. Ich weiß heute leider nicht mehr wie viel Zentner jede Familie pro Winter bekam, aber es kann nicht viel gewesen sein. Geliefert wurden diese Kohlen natürlich auch nicht, man musste sie mit einem Handwagen vom Kohlenhändler abholen.
Unser Kohlenhändler hieß Kübart und hatte seinen Hof in Pichelsdorf. Da ich als 12 ½ jähriger diese Arbeit immer übernahm, weiß wie mühevoll es war den Handwagen mit 2 Zentner Kohlen von Pichelsdorf über Bocksfelde zur Lanke-Werft zu ziehen. Natürlich immer mit Hunger im Bauch. Der Winter 47 erleichterte mir die Arbeit, ich konnte die Kohlen auf mein Schlitten laden und sie quer über die zugefrorene Scharfe-Lanke von Pichelsdorf nach Hause fahren.
Der elektrische Strom war natürlich auch rationiert, Stromsperren waren an der Tagesordnung. Meistens saß man abends im Dunkeln bei Kerzenlicht. Kerzen gab es natürlich auch nur auf dem Schwarzmarkt oder man musste sie sich aus Stearinresten selbst gießen. Einmal hat mein Vater eine Karbid-Lampe organisiert, die gab zwar helleres Licht stank aber gewaltig.
Alles wurde verheizt
Mein Schulfreund Männe wohnte mit seiner Mutter in einer Holzlaube in der Kolonie Bocksfelde, Margareten Weg (heute steht dort eine Schule). Es waren Flüchtlinge aus Schlesien und hatten hier eigentlich keine Bekannte oder andere Bindungen. Da die Laube „saukalt“ war, musste Männe immer für Brennmaterial sorgen, um dem Kanonenofen wenigsten etwas Wärme zu entlocken.
Auf etwas illegale Weise half ich ihm öfters dabei. Abends schlichen wir durch die Kolonie Bocksfelde und hielten Ausschau nach Lattenzäunen. Hatten wir einen entdeckt, war das weitere kein Problem. Die Zaunfelder waren immer ca. 2 m lang und von außen an die Pfähle genagelt, immer schön zwei Längstlatten und viele etwas dünnere senkrechte Sprossen. Einer vorne einer hinten und auf Hauruck hatten wir das Zaunfeld in der Hand. Nun hieß es schnell auf Schleichwegen zu verschwinden und Männe hatte wieder für ein paar Tage Heizmaterial. Da zu dieser Zeit alles was irgendwie nach Holz aussah verheizt wurde hat Niemand sich über die Zaunlücken gewundert. Problematisch wurde bei diesem strengen Frost der Schulbesuch.
Wegen des Mangels an Kohlen konnten nicht mehr alle Schulen beheizt werden, unsere 21. Volksschule in der Konkordiastraße auch nicht mehr. Wir mussten ausweichen in die 23. Volksschule. Die 23. befand sich am oberen Ende der Adamstraße, gegenüber der Melanchthonstraße, sie war wie damals noch üblich eine Mädchenschule. Wir hatten nur jeden 2. Tag Unterricht, der auch noch verkürzt war. Um an unsere Schulspeisung zu kommen mussten wir aber doch jeden Tag in der Schule erscheinen. Das war aus heutiger Sicht nicht schlecht, denn dieser halbe Liter warme Suppe war für manchen damals die die einzige warme Mahlzeit am Tage. An einen „Schmankerl“ kann ich mich noch erinnern, alle 2 oder 3 Tage gab es zusätzlich einen Schokoladenriegel.
Brandkatastrophe im Vergnügungslokal „Karlslust“
Ein Ereignis war im Hungerwinter 1947 für mich besonders einprägsam. Das war die Brandkatastrophe im Vergnügungslokal „Karlslust“, in Hakenfelde, von Julius Loebel. In Spandau spricht man heute noch von den „Loebel-Opfern“. Dieser Maskenball sollte das erste Tanzvergnügen nach dem Kriege in Spandau werden und er endete tragisch. Als am 8. Februar 47 das aus Holz gebaute Lokal durch einen überhitzten Ofen Feuer fing, fanden 80 junge Menschen den Tod. Die noch mangelhaft ausgerüstete Feuerwehr und Temperaturen unter 20 Grad minus behinderten die Löscharbeiten.
Ich stand an diesem Abend an der Pichelsdorfer – Ecke Heerstraße und erwartete meinen Vater von einer Hamstertour, dabei sah ich wie Leute mit langen Kleidern in die Straßenbahn der Linie 75 einstiegen, um in Richtung Hakenfelde zu fahren. Als ich am nächsten Tage von der Katastrophe in der Zeitung las, war mir der Bedeutung dieser Begegnung bewusst.
Jörg Sonnabend
Ende von Teil 8
Kindheitserinnerungen von Jörg Sonnabend 1945 bis 1949
- Der Krieg war zu Ende. Aber die Leiden und Entbehrungen sollten für uns erst beginnen.
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 1 - Ein Abenteuerlicher Schulweg in der Spandauer Nachkriegszeit
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 2 - Lebensmittelversorgung der Bevölkerung nach Kriegsende
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 3 - Schlusengeld – 1000 Reichsmark für ein Fahrrad
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 4 - Sicher stellen von Heizmaterial und Nahrungsbeschaffung nach Indianer-Art
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 5 - Schwarzmarkt und Wintervergnügen in Spandau
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 6 - Zwischen grenzenloser Freiheit und Schuldisziplin
Spandauer Kindheits-Erinnerungen von Jörg Sonnabend 1945-49 – Teil 7